Hochseeschein-Kurs Abend 4 und 5: Alles fliesst!

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Alles strömt - Hochseeschein Abend 4 und 5Die letzten beiden Abende des Hochseeschein-Kurses fasse ich hier jetzt einfach mal zusammen, denn das gemeinsame Thema lautete: Alles fliesst! – Die Strömungen und was man damit machen kann.

Navigation mit Strömungen und Wind: Meist mit den Sinnen an Bord kaum wahrnehmbar, beeinflussen Strömungen und Winde den Weg zu unserem Ziel dynamisch. Anders als die Missweisung und die Ablenkung des Kompasses sind die durch diese beiden Kräfte hervorgerufenen Kursänderungen also nicht einfach aus einer Tabelle entnehmbar, sondern sind abhängig von Zeit, Ort und Witterung.


1. Auswirkung des Windes auf den Kurs.
Der Wind versetzt unseren Kurs grundsätzlich nach Lee. Bezogen auf unsere Kompassrose können wir sagen:

Wind von Steuerbord versetzt den Kurs entgegen dem Uhrzeigersinn und erhält ein negatives, Wind von Backbord versetzt den Kurs im Uhrzeigersinn und erhält ein positives Vorzeichen bei der Kursverwandlung.

Als erste Faustregel für die Beschickung für Wind gilt:

Die Stärke der Ablenkung in Winkel-Grad durch den Wind beträgt vor dem Wind das 0.5-fache, auf halben Wind das einfache und am Wind das doppelte der vorherrschenden Windstärke in Beaufort.

Um den angenäherten Wert für eine vorhandene Windabdrift festzustellen, bietet sich eine wiederholte Achterauspeilung auf einen fixstehenden Peilpunkt an. Durch die Feststellung der Besteckversetzung ergibt sich in einem strömungsfreien Gewässer der Wert für die Windabdrift.

2. Der Strom.
Der Strom versetzt unseren Kurs grundsätzlich in die Richtung in die er setzt.

Auch hier kann man eine Faustregel zur Kursverwandlung ableiten:

Versetzt uns der Strom nach Backbord, erhält die Beschickung für Strom ein negatives, werden wir jedoch nach Steuerbord versetzt, erhält die Strombeschickung ein positives Vorzeichen bei der Kursverwandlung.

2.1. Windbedingter Strom.
In einigen Regionen sowie in Sunden und in Passagen zwischen Inseln kann der Wind durch die Verfrachtung der Wasseroberfläche eine Strömung hervorrufen, die bis zu 2-3% der Windgeschwindigkeit in Knoten betragen kann.
Angaben zu örtlichen Strömungsverhältnissen finden sich in Revierführern, die effektive Beschickung durch einen windbedingten Oberflächenstrom wird sich allerdings in der Regel aus Beobachtungen und Peilungen an Bord ergeben.

2.2. Gezeitenbedingter Strom.

Die Anziehungskräfte von Mond und Sonne üben eine für den Menschen nicht wahrnehmbare Gravitationskraft auf die Erde aus. Diese Kräfte verfrachten allerdings täglich grosse Mengen Wasser rund um den Globus. Diese Welle ist auf dem freien Ozean nicht wahrnehmbar, wo sich allerdings flache Küstengebiete mit schmalen Einschnitten befinden, können die Gezeitenströme sehr schnell werden. Denn dort muss dann viel Wasser in kurzer Zeit durch eine Engstelle – Das führt zu einer deutlichen Beschleunigung des Wassers.

Bekannte Segelreviere mit deutlichen Gezeitenströmen sind in Europa das Wattenmeer vor Holland und Deutschland sowie der Englische Kanal mit dem Solent und die Französische Atlantikküste, hier besonders die Kanalküste vor St. Malo.

Gezeitenströme und die Berechnung des Stromes.

Gezeitenströme werden am genauesten mit Hilfe eines Gezeitenatlas oder einer ähnlichen Publikation ermittelt.
In den CCS-Unterlagen finden Sie übrigens Auszüge aus dem Reeds Nautical Alamnach.

Dieser Revierführer enthält für ausgewählte Seegebiete Karten, auf denen die geltenden Stromwerte grafisch in Richtung und Stärke für jeweils die Stunden vor und nach Hochwasser angezeigt werden.
tidal_atlas_detailDie Pfeile auf jedem dieser Stundenchart genannten Karten zeigen die Richtung und die Geschwindigkeit des Stromes.

Die Zahlen an dem Pfeil zeigen die Stromgeschwindigkeit für die Nipp- und Springzeit in Zehnteln eines Knoten an.

Die Spring und die Nippströmungs-Geschwindigkeiten werden durch einen Punkt getrennt dargestellt: D.h: 07.13 zeigt 0.7kn Strom in der Nippzeit und 1.3kn Strom in der Springzeit an.

Nun sind wir ja leider nicht immer genau an den Tagen an denen entweder Spring- oder Nipptide herrscht in den Fahrtgebieten unterwegs und so wird sich die Strömungsgeschwindigkeit an dem Zeitpunkt unseres Befahrens dort irgendwo zwischen diesen beiden Extremwerten befinden. Übrigens: Hin und wieder können auch Extremwerte auftreten, die geringfügig über oder unter den im Stundenchart angegebenen Werten liegen.

Um den Gezeitenstrom nun relativ genau zu bestimmen, verwenden wir ein als „Computation of Rates“ bekanntes Verfahren, dass in der Regel im Innenteil eines Gezeitenatlas beschrieben wird.

Schauen wir uns nun einfach mal an, wie man mit der Computation of Rates recht einfach und zuverlässig die Geschwindigkeit eines Gezeitenstroms mit Hilfe des Stundencharts ermittelt:

Aufgabe:
Ermitteln Sie den Gezeitenstrom bei Lizard Point um 1500 UTC am Samstag, den 27. Oktober 2012.

Auf der Annahme basierend, dass die Geschwindigkeit des Stromes in linearer Abhängigkeit zur Höhe der Gezeit – also der Differenz zwischen dem höchsten und tiefsten Wasserstand einer Ebbe-Flut-Sequenz – steht, führt unser kleiner Umweg also zunächst über die Frage, wie hoch denn die Gezeit an dem Tag in unserem Fahrtgebiet ist. Für unser Beispiel ist die Höhe der Gezeit als Bezug für den Hafen von Dover gegeben, der Bezugshafen findet sich oben links in der Stundenchart.

Wir schlagen nun also die exakten Daten für den 27. Oktober 2012 im Gezeitenkalender von Dover nach, den wir ebenfalls im Reeds Almanach oder Gezeitenatlas finden:

Dover Gezeiten für den Sa 27. Oktober 2012 (UTC)

0509 1.4
1011 6.3
1728 1.4
2233 6.3

Der von uns gesuchte Zeitpunkt ist also 5 Stunden nach dem letzten Hochwasser (10:11).
Wir schlagen den entsprechenden Stundenchart im Stromatlas auf und entnehmen die Strömungsgeschwindigkeiten für die Nipp- und Springzeit am gesuchten Ort – Hier 0.7 und 1.3 Knoten:

tidal_atlas_detail

Zusätzlich interessiert uns die Höhe der Gezeit am gesuchten Tag:
In diesem Fall ist das die Differenz von 6,3 m bis 1,4 m = 4,9 Meter.

Das obige Beispiel habe ich von einer englischen Webseite, auf der dieser Vorgang schön einfach beschrieben wird, übernommen. Allerdings hat sich das der englische Autor etwas gar einfach gemacht, indem er sich einen Tag aussuchte an dem alle drei Wechsel von Flut und Ebbe die selbe Gezeitenhöhe haben.

Es ist wichtig, die durchschnittliche Höhe der Tagesgezeit zu berechnen!
Das geht ganz einfach: Am 27 Oktober gibt es drei vollständige Wechsel zwischen Flut und Ebbe: 05:09 – 10:11 UTC mit einer Höhe von 4.9 Metern, 10:11 – 17:28 mit 4.9 Metern und von 17:28 – 22:33 mit ebenfalls 4.9 Metern.
Um mit dem folgenden Diagramm korrekt zu arbeiten, muss man den Mittelwert aus den drei Gezeiten bilden – hier praktischerweise 4.9 Meter. Die (hier sinnlose) Rechnung lautet also (4.9 + 4.9 + 4.9) / 3 = 4.9 m.

Für die in den Gezeitenatlanten verwendeten Bezugshäfen finden Sie Diagramme für die Computation of Rates, die zeichnerische Ermittlung der Strömung zu einem bestimmten Zeitpunkt (Klick auf’s Bild macht es Gross):

Computation of Rates Formular

CTR-Dover-Training-02

CTR-Dover-Training-03

CTR-Dover-Training-04

Das leere Diagramm enthält neben der Information zum Bezugshafen, für den es gültig ist auch schon dessen mittlere Gezeitenhöhen zur Nipp- und Springzeit jeweils als gestrichelte Linie. Da wir mit der obigen Rechnung die aktuelle Gezeitenhöhe am Ort ermittelt haben, ist es relativ leicht diese Informationen in Relation zur Stromgeschwindigkeit zu setzen – in der Annahme das eine bestimmter Tidenwasserstand im Verhältnis zum mittleren Hochwasser des Bezugsort steht und man so eine Strömung interpolieren kann:

Die Werte am Pfeil aus dem Atlas sind: 07.13, also 0.7kn und 1.3kn. Diese Werte tragen wir nun auf der mit Neaps und Spring bezeichneten Linie ab. Die Strömungen finden wir in Zehntelknoten auf den X-Achsen des Diagramms.

Nun zeichnen Sie eine schräge Linie, welche die eben markierten Punkte verbindet. Und zeichnen Sie über den Kreuzungspunkt hinaus – denn manchmal ergeben sich Werte über oder unter den Neaps oder Springs.

Wenn wir nun auf der linken Skala für die Gezeitenhöhe die für unseren Ort im Stromatlas ermittelten 4.9 Meter mit einer horizontalen Linie abtragen, ergibt sich senkrecht über und unter dem Schnittpunkt mit der schrägen Line der von uns gesuchte Wert für die Strömungsgeschwindigkeit am Pfeil. Das wären in diesem Beispiel ca. 1.1 Knoten Geschwindigkeit.

Messen wir die Richtung in die der Pfeil zeigt mit dem Rapporteur, können wir den Strom an dieser Stelle benennen:

1.1 Knoten / 70 Grad

Praxistipp:
Solange Sie sich im gleichen Seegebiet aufhalten, können Sie einen Faktor zwischen z.B. der Springgeschwindigkeit am Pfeil und der ermittelten „realen“ Strömungsgeschwindigkeit ermitteln. (1.1 Knoten Real / 1.3 Knoten Spring = 0.85)
Diesen Faktor können Sie nun für jeden Pfeil in diesem Gebiet an diesem Tag einsetzen um die reale Stromgeschwindigkeit direkt zu ermitteln. Man muss das Diagramm also eigentlich nur einmal am Tag zeichnen!

Klingt ganz schön kompliziert? Ist es aber eigentlich nicht!
Probieren Sie es einfach ein, zwei Mal selbst aus. Dieses Verfahren ist genauer als die Schätzungen und Mittzeit-Interpolationen früher und mit dem Faktor auch durchaus Zeit sparend.

Nützliche Links zum Thema Computation of Rates:

Für gröbere Annäherungen an diesen recht genauen Wert können wir übrigens auch Interpolieren:
Dazu verwenden wir entweder einfach die Springzeit-Werte am Pfeil für alle Tage die noch zur Springzeit gezählt werden, den Nippzeit-Wert für alle Tage die zur Nipp-Periode gezählt werden und den Mittelwert aus den beiden Zahlen für die Mittzeit. Die Springzeit und die Nippzeit dauert je 4 Tage, die Mittzeiten dazwischen dauern 3 Tage. Die genauen Daten für Spring- und Nippzeiten ergeben sich aus dem Gezeitenkalender des Bezugsortes.

Ein weiteres Verfahren zur Bestimmung von Gezeitenströmungen bietet unsere Seekarte.
In Seekarten von Gezeitenrevieren finden wir „Gezeiten-Diamanten“ mit Buchstabenkennungen über das Seegebiet verteilt. Diese Rhomben werden in der Legende der Seekarte beschrieben und enthalten die Strömungswerte für diesen Ort jeweils von 6 Stunden vor bis 6 Stunden nach Hochwasser:

Gezeitendiamant

Zur Passage-Planung sollte immer die genaustmögliche zur Verfügung stehende Variante gewählt werden.

Die Stundendreiecke

Nachdem wir also nun den Strom kennen, dem wir während unserer Überfahrt ausgesetzt sein werden, müssen wir diesen in unsere Kursverwandlung mit einbeziehen.

In den von uns verwendeten Kursverwandlungsschemen werden die Beschickungen und Korrekturen in der Regel direkt in Grad angegeben. Das ist für die ermittelten Stromwerte nicht direkt möglich, da die Ablenkung auf unseren Kurs von Stromgeschwindigkeit und Fahrt des Schiffes abhängig ist.

Obwohl eine direkte mathematische Berechnung möglich ist (z.B. iPhone App: NautiCalc ), verwenden wir an Bord die zeichnerische Lösung dieses Problems: Die Stromdreiecke oder auch Stundendreiecke – Einfache Vektordiagramme, die die Abhängigkeiten der Kräfte und Geschwindigkeiten direkt grafisch auflösen.

Die Stromaufgaben

In der Praxis können uns drei Fragestellungen begegnen, die wir hier im einzelnen kurz anschneiden:

  • Stromaufgabe 1: Wohin setzt der Strom

    Wir möchten also wissen welchen Kurs über Grund wir mit welcher Fahrt über dem Grund zurücklegen.
     
    Die Vorgehensweise:
    Stromaufgabe 1

    • 1. Magnetkompasskurs in Kurs durch das Wasser verwandeln.
    • 2. Kurs durch das Wasser in der Karte ab Ausgangspunkt (Punkt A) eintragen.
    • 3. Die Fahrt durch das Wasser (Knoten = Seemeilen pro Stunde!) abtragen. Ergibt Punkt B.
    • 4. Ab Punkt B den Strom in Richtung und Stärke (Knoten = sm / h !) eintragen. Ergibt Punkt C.
    • 5. Punkt A mit Punkt C verbinden = Kurs über Grund. Distanz ist gleich Fahrt über Grund.
  •  

  • Stromaufgabe 2: Wie müssen wir vorhalten

    Um möglichst grade auf ein gesetztes Ziel zuhalten zu können müssen wir herausfinden, welcher Kurs durchs Wasser uns unter Berücksichtigung des Stromversatzes ans Ziel bringt.
     
    Die Vorgehensweise:
    Stromaufgabe 2

    • 1. Kurs über Grund vom Ausgangsort (Punkt A) zum Ziel hin eintragen.
    • 2. Den Strom ab dem Punkt A eintragen. Ergibt Punkt B.
    • 3. Von Punkt B aus die Fahrt durchs Wasser (Kn) über den Kurs über Grund abschlagen. Wird Punkt C.
    • 4. Punkt B mit Punkt C verbinden = Kurs durchs Wasser.
  •  
     

  • Welcher Strom versetzt uns

    Wir haben festgestellt, dass wir von einer unbekannten Strömung versetzt wurden. Welche Strömung setzt?
     
    Die Vorgehensweise:
    Stromaufgabe 3

    • 1. Ab Ausgangspunkt A den Kurs durchs Wasser eintragen.
    • 2. Den Ob z.B. durch Peilung eintragen. Fahrt durchs Wasser für die versegelte Zeit auf dem Kurs durchs Wasser abtragen = Ok1
    • 3. Ausgangspunkt A mit dem Ob verbinden = Kurs über Grund.
    • 4. Ok1 mit dem Ob verbinden = Besteckversetzung in Richtung und Distanz.
    • 5. Fahrt durchs Wasser auf dem Kurs durchs Wasser abtragen = Ok2
    • 6. Besteckversetzung solange parallelverschieben, bis sie Ok2 schneidet: Strom in Richtung und Stärke.

Des weiteren wurde noch kurz die Ermittlung des Wendepunkts für ein Segelboot ermittelt, dessen Ziel nicht im segelbaren Bereich liegt. Dies ist aber keine direkte Stromaufgabe und deswegen verschiebe ich dieses Thema auf den Bericht von Abend 7 – Denn dort ist eine Wiederholung und Übungslektion vorgesehen, für dieses Projekt hier ein toller Platz für Themen, die etwas zu kurz gekommen sind…

Nächste Woche geht es weiter mit der Ermittlung terrestrischer Standlinien und was man damit unterwegs alles tolles machen kann…

Dieser Artikel ist Teil einer Serie.
Eine chronologisch sinnvoll sortierte Übersichtsseite über alle bislang erschienenen Artikel zum Thema Hochseeschein finden Sie hier:
Der Hochseeschein – Der Weg zum Schweizer B-Schein.
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